Biographie

Richard Kratzmann wurde als erster Sohn einer deutschstämmigen Familie in Prag geboren, deren Vorfahren aus dem Sudetenland stammten. Sein Vater war Inhaber einer Metallwarenfabrik. Seine Mutter führte einen erfolgreichen Modesalon in Prag. Sie war selbst künstlerisch veranlagt und erkannte sehr früh das musikalische Talent ihres Sohnes. Ab seinem vierten Lebensjahr erhielt er Klavierunterricht bei renommierten Musikpädagogen.

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Im Mai 1945 wurde der Vater von Richard Kratzmann nicht nur wegen seiner deutschen Herkunft, sondern auch als sogenannter „Ausbeuter des Proletariats“ verhaftet. Das gesamte Hab und Gut der Familie wurde vom kommunistischen Regime beschlagnahmt. Den größten Teil davon hat sich eine hohe Funktionärin der kommunistischen Partei angeeignet. Überdies ließ sie die gesamte Familie von Agenten der geheimen Staatspolizei überwachen. Die Familie wurde aus Prag verbannt. Alle Ausreiseanträge nach Deutschland wurden zurückgewiesen. 1953 wurde die Aussiedlung nach Deutschland vom Innenministerium unwiderruflich untersagt.

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Bis Ende des Krieges hatte Kratzmann eine deutsche Grundschule besucht. Nach einer Aufnahmeprüfung in Tschechisch durfte er seinen Schulbesuch an einer Grundschule in der Kleinstadt Jitschin in Ostböhmen fortsetzen. Die sechs Jahre Untersuchungshaft des Vaters und die wiederholte Verfolgung der Familie waren für den jungen Kratzmann eine schwere Belastung, die er in der Welt der Musik zu kompensieren suchte. Nach einem privaten Vorspiel beim bekannten tschechischen Konzertpianisten Otakar Vondrovic war dieser von dem außerordentlichen Talent des jungen Kratzmanns begeistert. Er unterrichtete ihn zwei Jahre – bis Kratzmann sich von der künstlerisch intensiven Auseinandersetzung mit der Musik aufgrund der schweren körperlichen Arbeit zurückziehen musste. Denn er war nach Beendigung der neunjährigen Schulausbildung an der Grund- und Mittelschule im Jahr 1952 von einer weiterführenden Schulausbildung ausgeschlossen worden. So arbeitete er als Hilfsarbeiter in einer Möbelfabrik, einer Eisengießerei und in einem Bauunternehmen. Seine Arbeiterkollegen bewirkten schließlich eine Empfehlung des Arbeiterausschusses, woraufhin er am Unterricht eines Abendgymnasiums und eines Gymnasiums in Gablonz an der Neiße teilnehmen durfte. Zur Zeit des dogmatischen stalinistischen Sozialismus wurde Kratzmanns Vater erneut im Jahr 1957 verhaftet. Ihm selbst wurde ein generelles Verbot eines Hochschulstudiums ausgesprochen.

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Im Jahr 1960 trat Kratzmann den obligatorischen militärischen Dienst an. Hier lernte er den Kontrabassisten der „Prager Nonets“, Vaclav Fuka, kennen, der eine Klavierbegleitung für seine Konzerte im Rahmen des Militärdienstes suchte. Sie bildeten ein Duo und dies war gleichzeitig der Beginn der pianistischen Karriere von Kratzmann. Das Duo wurde bald zu einem Begriff und erhielt daher volle Unterstützung für die künstlerische Arbeit. Die beiden Musiker durften am Finale des militärischen Künstlerwettbewerbs in Bratislava (Preßburg) teilnehmen. Das Duo und Kratzmann im Fach Klaviersolo erhielten jeweils den ersten Preis. In der Jury waren namhafte tschechische Künstler und Pädagogen, unter anderen der Violoncellist des Prager Kammertrios, Professor F. Smetana. Smetana überzeugte Kratzmann angesichts seines Talentes, sich der Musiklaufbahn zu widmen, und versprach ihm volle Unterstützung.

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Nach Beendigung des Militärdienstes und einer kurzen Beschäftigung als Korrepetitor an dem Theater "Poetisches Cabaret" in der Prager Frühlingsära bereitete sich Kratzmann für die Aufnahmeprüfung an der Akademie der musischen Künste in Prag vor. Die Prüfungen bestand er als Bester aller Bewerber in allen Fachrichtungen der Akademie. Kratzmann studierte sechs Jahre an der Akademie als Meisterschüler der Professoren Rauch und Palenicek, die als sogenannte „Nationale Künstler“ nicht nur im eigenen Land einen Namen hatten. Kratzmann beendete sein Studium an der Akademie mit dem Prädikat „Vorzüglich mit Auszeichnung“. Aufgrund seines recht späten Studiums und der üblichen Altersbegrenzungen schaffte Kratzmann es leider nicht, an internationalen Wettbewerben teilzunehmen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf dem normalen Weg durchzukämpfen.

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Schon während des Studiums gab Kratzmann Klavierkonzerte und erweckte die Aufmerksamkeit der Prager Musikszene. Zum Ende seines Studiums drehte er mit seinen Professoren einen Fernsehfilm mit dem Titel „Johannes Brahms und sein Klavierkonzert B-Dur“. Der Film gewann auf einem Filmfestival mit künstlerischer Thematik den ersten Preis und wurde im tschechischen Fernsehen mehrmals ausgestrahlt. Er feierte in dieser Zeit bereits große Erfolge. Daher wurde er nach seinem Studium von der staatlichen tschechoslowakischen Musikagentur „Pragokonzert“ unter Vertrag genommen. Es begann für Kratzmann eine vielversprechende Konzertlaufbahn im Ausland. Seine Konzerte in fast allen Staaten des damaligen Ostblocks sowie in England, Schottland, Irland, Österreich, Ägypten und Kuba haben seine hervorragende künstlerische Begabung immer mit vollem Erfolg bestätigt. Allein viermal reiste er auf Konzerttourneen durch die damalige UDSSR und gastierte als Solist bei diversen Orchestern. Die Konzertauftritte waren fernerhin begleitet von Einspielungen und Konzertmitschnitten für Funk- und Fernsehanstalten verschiedener Länder sowie Live-Übertragungen.

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Im dritten Jahr seines Engagements spielte er das „Klavierkonzert b-Moll“ von P. Tschaikowsky mit den Prager Symphonikern in demselben Smetana-Konzertsaal, wo er ein paar Jahre zuvor als Hilfsarbeiter zur Renovierung in den Kellerräumen eingesetzt war. Als er am Flügel saß, überwältigten ihn die starken Gefühle und Erinnerungen aus dieser schweren Zeit. Nur unter größter Inanspruchnahme seiner Reserven konnte er seine absolute Konzentration wiedererlangen und seinen Solopart einleiten.

Im Jahr 1970 wurde Kratzmann zum Solisten des Prager Kammerorchester ernannt, wo er bis 1973 beschäftigt war. Neben seinen Konzerten war er ab 1975 auch als Pädagoge am Prager Konservatorium tätig. Im Zuge innenpolitischer Machtkämpfe wurde ihm die Vergangenheit seiner Familie wiederum zur Last gelegt. Die Konzertagentur organisierte keine Konzerte mehr für Kratzmann und eine pädagogische Tätigkeit an der Akademie der Künste wurde ihm trotz Empfehlungen und Bemühungen der Professoren von den Behörden abgelehnt.

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Im Jahr 1978 konnte Kratzmann schließlich ausreisen. Da Deutschland ein Tabu für Ausreisegenehmigungen war, gestattete man Kratzmann einen Besuch der Verwandtschaft in Frankreich. Von dort setzte er sich nach Deutschland ab und ließ sich in München nieder, wo er bis heute lebt. Es entstand ein intensiver Kontakt mit dem Chefdirigenten des Bayerischen Rundfunksymphonieorchester Rafael Kubelik, infolgedessen zahlreiche Einspielungen beim Bayerischen Rundfunk und Radio Bremen erfolgten. Des Weiteren konzertierte er als Solist mit dem Bayerischen Rundfunksymphonieorchester und den Bamberger Symphonikern unter Dirigenten wie Hans Vonk und Jan Koetsier. Bis heute verfolgt er neben seinen Konzertauftritten die Arbeit mit jungen Talenten. Sein sehr anspruchsvolles Repertoire reicht von barocker bis zu zeitgenössischer Musik.

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Seit 2002 wird der Künstler vertreten von RICHART Agentur Heidrun Schulz.

 


Übergabe des Meister-Diploms


Rudolphinum, Prag, das Domizil der tschechischen Philharmonie mit dem Dvořák-Konzertsaal, hinterer Gebäudetrakt ehemalige Akademie der musischen Künste mit dem Prager Konservatorium
— Foto: Heinz-Josef Lücking